Das Landgericht Ravensburg hat mit Beschluss vom 02.07.2020 einen weiteren Rechtsstreit (Az.: 2 O 84/20) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Hintergrund ist der Widerruf eines Verbraucherdarlehensvertrages (abgeschlossen am 01.09.2016), mit dem der Kauf eines Pkw Citroen finanziert wurde.
Zur Begründung hat das Landgericht Ravensburg u.a. ausgeführt:
"Im vorliegenden Fall enthält die Widerrufsinformation (Seite 10 des Kreditvertrages
gem. Anlage K 1) einen solchen nach dem Urteil des EuGH unzulässigen Verweis, da der
Verbraucher in der Widerrufsinformation im zweiten Satz wie folgt informiert wird:
Widerrufsrecht
Der Darlehensnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen ohne
Angabe von Gründen widerrufen. Die Frist beginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst,
nachdem der Darlehnsnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB (z. B. Angaben
zur Art des Darlehens, Angaben zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit)
erhalten hat.
Es ist fraglich, ob in Konsequenz des Urteils des EuGH vom 26.03.2020 - C- 66/19 - die streitgegenständliche Widerrufsinformation als unzureichend anzusehen ist und
damit die Widerrufsfrist wegen unzureichender Angaben gem. § 356b Absatz 2 BGB i. V.m.
§ 492 Absatz 2, Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 1, Art. 247 § 12 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b)
EGBGB nicht begonnen hat. Denn Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3 EGBGB und der bei
verbundenen Verträgen zusätzlich anwendbare Art. § 12 Absatz 1 Satz 3 EGBGB ordnen
an, dass eine in hervorgehobener und deutlich gestalteter Form dem Muster gemäß Anlage 7 zu Art. 247 § 6 Absatz 2 und § 12 Absatz 1 EGBGB entsprechende Vertragsklausel den
Anforderungen des Art. 247 § 6 Absatz 2 Sätze 1 und 2 sowie des Art. 247 § 12 Absatz
1 Satz 2 Nummer 2 Buchstabe b) EGBGB genügt (sogenannte Gesetzlichkeitsfiktion). Im
vorliegenden Fall entspricht die Widerrufsinformation diesem Muster, so dass die
Widerrufsinformation nach nationalem Recht gem. Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3 und Art.
247 § 12 Absatz 1 Satz 3 EGBGB als fehlerfrei anzusehen wäre."
Das Landgericht Ravensburg hat sich auch instruktiv mit dem bisherigen Meinungsstand zu den Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 26.03.2020 auseinandergesetzt (dabei hat es wohl auch bereits Zugriff auf einen noch nicht erschienen Aufsatz von Knops, der vermutlich in Heft 31 der NJW 2020 erscheinen wird):
"Zu der Frage, ob das Urteil des EuGH vom 26.03.2020 - C-66/19 - der Berufung auf
die Gesetzlichkeitsfiktion entgegensteht, gibt es unterschiedliche Auffassungen im
nationalen Recht:
a) Der XI. Zivilsenat des BGH hat sich an einer Umsetzung und damit Befolgung dieser
EuGH-Rechtsprechung in einem Beschluss vom 31.03.2020 (XI ZR 198/19, juris Rn. 13 ff.) gehindert gesehen, weil er Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3 EGBGB gegen die ausdrückliche Anordnung des Gesetzgebers nicht europarechtskonform auslegen könne. Der BGH meint, dass der eindeutige Wortlaut, der Sinn und Zweck der Norm und die Gesetzgebungsgeschichte einer richtlinienkonformen Auslegung entgegenstünden, denn insbesondere habe Rechtssicherheit bei den Anwendern erzeugt und der Rechtsverkehr vereinfacht werden sollen. Einige Oberlandesgerichte sind dem BGH bereits gefolgt (OLG München, Beschluss vom 03.04.2020 - 19 U 367/20 -, Beck RS 2020, 6106, Rn. 43 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 03.04.2020 - 6 U 182/19 - Beck RS 2020, 5408, Rn. 21 ff.; und bisher unveröffentlichte Entscheidungen
des OLG Hamm 05.05.2020 I-31 U 64/18, des OLG Schleswig, Urteil vom 28.05.2020 - 5 U
195/19 -, des OLG Hamburg, Beschluss vom 19.05.2020 - 13 U 37/20 - und des OLG
Oldenburg, Beschluss vom 22.04.2020 - 8 U 3/20 -).
b) Auch in der Literatur hat diese Auslegung des BGH teilweise Zustimmung gefunden,
wobei darauf abgehoben wird, dass der klare Zweck der deutschen Regelung in sein
Gegenteil verkehrt würde, wenn man die Musterinformation noch am Unionsrecht messen
müsste (Herresthal, ZIP 2020, 745, 748; Knoll/Nordholtz, NJW 2020, 1407).
Es wird jedoch auch ein entgegengesetzter Standpunkt vertreten und vorgebracht, die
Gesetzlichkeitsfiktion beschränke sich nach dem Wortlaut darauf, dass die
Übereinstimmung mit den nationalen gesetzlichen Vorgaben angeordnet werde (Maier, BKR
2020, 228; Beck-OGK-BGB/Knops, Stand 01.06.2020, § 495 Rn. 80.2,
MüKoBGB/Schürnbrand/Weber, 8. Auflage 2019, § 492 Rn. 31).
Es werde keineswegs eine Richtlinienkonformität angeordnet, da der nationale Gesetzgeber weder die Befugnis nochdie Absicht gehabt habe, abweichende Richtlinienvorgaben zu neutralisieren. Nach dieser Auffassung ist die richtlinienkonforme Auslegung problemlos möglich.
3. Wie das Urteil des EuGH vom 26.03.2020 - C-66/19 - im vorliegenden Fall
umzusetzen ist, erscheint als zweifelhaft. Selbst wenn man mit dem BGH unterstellt, dass
eine richtlinienkonforme Auslegung ausgeschlossen ist, müssen andere Lösungsansätze für
den Normenkonflikt zwischen Richtlinie und nationalem Gesetz erwogen werden:
57a) Denkbar ist zunächst eine teleologische Reduktion der Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3
und Art. § 12 Absatz 1 Satz 3 EGBGB (ausführlich Knops, NJW 2020, 2297). Dafür spricht,
dass aus den Gesetzesmaterialien bei der Schaffung der Gesetzlichkeitsfiktion gem. Art.
247 § 6 Absatz 2 Satz 3 EGBGB hervorzugehen scheint, dass der Gesetzgeber das Muster
richtlinienkonform gestalten wollte (BTDrucks. 17/1394, 25 ff.; Maier, BKR 2020, 225
[228]).
b) Außerdem kann ein nationales Gericht, wenn ihm eine Auslegung einer nationalen
Vorschrift im Einklang mit dem Unionsrecht nicht möglich ist, in bestimmten Fällen
verpflichtet sein, eine nationale Vorschrift unangewendet zu lassen.
In der deutschen Rechtsprechung besteht keine Einigkeit zur Frage des
Anwendungsvorrangs einer gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie gegenüber einer nationalen
Regelung. In einem Vorlagebeschluss vom 14.05.2020 hat der VII. Senat des BGH (VII
ZR 174/19, juris Rn. 28 ff. m. w. Nachw.) dem EuGH für den Bereich der Dienstleistungsrichtlinie die Frage vorgelegt, ob eine unmittelbare Wirkung des Art. 15 Absatz 1, Absatz 2 lit. g) und Absatz 3 RL 2006/123/EG zwischen Privatpersonen in der Weise anzunehmen sei, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen über verbindliche Mindestsätze in § 7 der
deutschen Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI)
nicht anzuwenden seien, sowie die weitere Frage, ob die Regelung verbindlicher
Mindestsätze gem. § 7 HOAI gegen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verstoße und
daraus folge, dass die Regelung über verbindliche Mindestsätze nicht mehr anzuwenden
sei. Der XI. Senat des BGH hat in seinem Beschluss vom 26.05.2020 (XI ZR 372/19 -juris) allerdings ausgeführt, dass eine direkte Anwendung der RL 2008/48/EG gegenüber Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3 EGBGB nicht in Betracht komme, da der EuGH in seiner neueren Rechtsprechung im Bereich des Verbraucherkreditrechts eine direkte Anwendung der RL 2008/48/EG offensichtlich ausgeschlossen habe. Auch das OLG Stuttgart (Urteil vom 30.06.2020 - 6 U 139/19 - juris Rn. 48) ist dieser Ansicht.
In der Rechtsprechung des EuGH sind die für den Anwendungsvorrang maßgeblichen
Grundsätze nicht abschließend geklärt (vgl. Lutter in Bayer/Vetter, UmwG, 6. Aufl. 2019,
Rn. 33 Fn. 122 und Knops, NJW 2020, 2297 jeweils mit zahlreichen Nachw. zur
Rechtsprechung des EuGH). In Bezug auf die RL 2008/48/EG hat der EuGH diese Frage
bisher offen gelassen (etwa in der Entscheidung vom 21. April 2016 - C-377/14 , Radlinger und Radlingerová gegen Finway a.s., Rn. 76 - 79).
c) Für einen Anwendungsvorrang der RL 2008/48/EG spricht, dass die Richtlinie gem.
Erwägungsgrund Ziff. 6 darauf zielt, die Hindernisse für einen reibungslos funktionierenden
Binnenmarkt abzubauen. Dieses Ziel ist primärrechtlich in Art. 95 EGV a. F., heute Art. 114
AEUV begründet. Außerdem soll mit der der RL 2008/48/EG nach der ständigen
Rechtsprechung des EuGH ein hohes Verbraucherschutzniveau verwirklicht werden (EuGH,
Urteil vom 11.09.2019 - C-383/18, Lexitor/SKOK, S. C. Bank, mBank, Rn. 29), und dieses Ziel ist primärrechtlich in Art. 12 und Art. 169 AEUV genannt.
Diesen primärrechtlich verankerten Zielen widerspräche es, wenn in zentralen Punkten wie
der Widerrufsinformation für Verbraucher vom Standard der Richtlinie abgewichen werden
könnte (Knops, NJW 2020, 2297).
Für den Anwendungsvorrang spricht weiterhin, dass die RL 2008/48/EG bei den dem
Verbraucher bei Vertragschluss zu erteilenden Informationen in Art. 10 und Art. 14
detaillierte Vorschriften enthält, von denen die Mitgliedstaaten gem. Art. 22 Absatz 1 RL
2008/48/EG nicht abweichen dürfen. Wenn der deutsche Gesetzgeber davon mit der
Konzeption der Art. 247 § 6 Absatz 2 Satz 3 und Art. 247 § 12 Absatz 1 Satz 3 EGBGB
bewusst abweichen wollte - und nach der Auslegung dieser Regelung durch den BGH war
gerade dies der Fall -, dann wird die RL 2008/48/EG in ihrem Kernbereich bewusst
unterlaufen. In einem Fall der bewussten Umgehung einer Richtlinie durch den nationalen
Gesetzgeber dürfte es, ebenso wie bei einem Verstoß gegen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts geboten sein, dass die Richtlinie unmittelbare Wirkung in der Weise entfaltet,
dass die abweichende nationale Bestimmung unanwendbar ist (Knops, NJW 2020, 2297).
4. Die vorgelegten Fragen sind im Streitfall entscheidungserheblich. Werden die
Vorlagefragen II. 1. a) und II. 1. b) bejaht, sind Art. 247 §§ 6 Absatz 2 S. 3, 12 Absatz 1
Satz 3 EGBGB unanwendbar, soweit sie auch solche Vertragsklauseln als den gesetzlichen
Anforderungen genügend erklären, die den Vorgaben des Art. 10 Absatz 2 lit. p) RL
2008/48/EG widersprechen. Damit wäre die Widerrufsinformation im Streitfall
unzureichend, und der Widerruf des Klägers wäre als wirksam anzusehen."